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Pressemitteilung
C-261/09;
Verkündet am:
16.11.2010
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt! Nationale Richter, der einen Europäischen Haftbefehl ausstellt, ist befugt, festzustellen, dass sich ein zuvor im Rahmen seiner Rechtsordnung erlassenes Urteil nicht auf dieselbe Handlung wie die in seinem Haftbefehl genannte erstreckt Titelauswahl: Franz-Anton Plitt, Chisinau - Internet entrepreneurLeitsatz des Gerichts: Der nationale Richter, der einen Europäischen Haftbefehl ausstellt, ist befugt, festzustellen, dass sich ein zuvor im Rahmen seiner Rechtsordnung erlassenes Urteil nicht auf dieselbe Handlung wie die in seinem Haftbefehl genannte erstreckt Die Justizbehörde, die den Beschuldigten festnimmt, kann dessen Übergabe daher normalerweise nicht ablehnen Mit dem Rahmenbeschluss1 über den Europäischen Haftbefehl sollen die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten dadurch vereinfacht und beschleunigt werden, dass die Komplexität und die Verzögerungsrisiken, die den politischen Verfahren und Verwaltungsverfahren der Auslieferung innewohnen, durch die Errichtung eines Systems des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen beseitigt werden. Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Seine Anwendung darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in der Grundrechtscharta enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt. Außerdem lehnt die Justizbehörde des Staats, der den Haftbefehl vollstreckt, seine Vollstreckung ab, wenn sich aus den ihr vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist. Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, bittet sie die Behörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat, darüber hinaus unverzüglich um Übermittlung zusätzlicher Informationen. Im Jahr 2005 verurteilte das Tribunale di Catania (Gericht von Catania, Italien) Herrn Gaetano Mantello wegen unerlaubten Besitzes von zum Weiterverkauf bestimmtem Kokain. Er verbüßte daraufhin eine tatsächliche Freiheitsstrafe von zehn Monaten und 20 Tagen. Im Jahr 2008 erließ das Tribunale di Catania gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl wegen des Vorwurfs, sich zwischen 2004 und 2005 an einem bandenmäßig organisierten Drogenhandel in mehreren italienischen Städten und in Deutschland beteiligt zu haben. Nachdem die deutschen Behörden über das Schengener Informationssystem (SIS) Kenntnis über den Haftbefehl erhalten hatten, ließen sie Herrn Mantello Ende 2008 festnehmen. Das Tribunale di Catania als Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hatte, teilte dem Oberlandesgericht Stuttgart mit, dass das Urteil aus dem Jahr 2005 der Vollstreckung des Haftbefehls nicht entgegenstehe. Das Oberlandesgericht hat sich jedoch mit der Frage an den Gerichtshof gewandt, ob es die Vollstreckung dieses Haftbefehls unter Berufung auf das Verbot der Doppelbestrafung verweigern könne, nachdem die italienischen Ermittlungsbehörden bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung, die zur Verurteilung von Herrn Mantello wegen des Besitzes von Kokain geführt habe, hinreichende Beweise gehabt hätten, um ihn wegen bandenmäßigen Rauschgifthandels strafrechtlich zu verfolgen. Aus ermittlungstaktischen Gründen hätten sie weder die ihnen vorliegenden Informationen und Beweise an die Untersuchungsrichterin weitergeleitet noch seinerzeit um die Verfolgung dieser Taten ersucht. In erster Linie zur Auslegung des Begriffs „dieselbe Handlung“ befragt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Auslegung in der Rechtsprechung zum Schengener Durchführungsübereinkommen2 auch im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss gilt. Nach Ansicht des Gerichtshofs beziehen sich die Fragen des vorlegenden Gerichts in Wirklichkeit eher auf den Begriff „rechtskräftige Verurteilung“. Daher stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob angesichts des Umstands, dass die italienischen Ermittler zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen Betäubungsmittelbesitzes (2005) über Beweise für eine Mitgliedschaft des Beschuldigten in einer kriminellen Organisation verfügten, diese Beweise dem Tribunale di Catania aber nicht zur Würdigung unterbreitet haben, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, davon ausgegangen werden kann, dass bereits eine Entscheidung vorlag, die einer rechtskräftigen Verurteilung wegen der im Haftbefehl geschilderten Handlungen gleichzusetzen ist. Eine gesuchte Person ist als wegen derselben Handlung rechtskräftig verurteilt anzusehen, wenn die Strafklage aufgrund eines Strafverfahrens endgültig verbraucht ist oder die Person rechtskräftig freigesprochen wurde. Ob ein Urteil „rechtskräftig“ ist, bestimmt sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem dieses Urteil erlassen wurde. Folglich begründet eine Entscheidung, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, der die Strafverfolgung einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene für eine bestimmte Handlung nicht endgültig verbraucht, kein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Handlung in einem Mitgliedstaat der Union. Hat die Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat, auf ein Informationsersuchen der vollstreckenden Justizbehörde hin auf der Grundlage ihres nationalen Rechts ausdrücklich festgestellt, dass das zuvor im Rahmen ihrer Rechtsordnung erlassene Urteil keine rechtskräftige Verurteilung wegen der in ihrem Haftbefehl bezeichneten Handlungen darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht ablehnen. ----------------------------------------------------- 1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1). 2 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000 L 239, S. 19), unterzeichnet in Schengen (Luxemburg) am 19. Juni 1990. _____________________________________ HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. ----------------------------------------------------- Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? Dann ist dieser Link nicht in unserer DB gespeichert, z.B. weil das Urteil vor Frühjahr 2009 gespeichert worden ist). |