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Text des Beschlusses
1 Ss Bs 45/10;
Verkündet am: 
 29.10.2010
OLG Oberlandesgericht
 

Jena
Vorinstanzen:
992 Js 202445/09 – 2 OWi
Amtsgericht
Arnstadt;
Rechtskräftig: unbekannt!
Zur Verwertbarkeit von Messergebnissen aus einer Abstands- und Geschwindigkeitsmessanlage VKS 3.01 (Video) + Verjährung während des gerichtlichen Verfahrens
Leitsatz des Gerichts:
GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1; StPO §§ 100h, 108, 477 Abs. 2 Satz 2

Zur Verwertbarkeit von Messergebnissen aus einer Abstands- und Geschwindigkeitsmessanlage VKS 3.01:

Die Videographierung von Verkehrsteilnehmern in einer Vorselektion durch einen Videoanalyseprozess stellt schon deshalb keinen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, weil die Selektionskamera keine Bilder aufzeichnet. Abgesehen davon beeinträchtigt der Einsatz der Selektionskamera dieses Recht auch deswegen nicht, weil diese keine individuellen Merkmale des Fahrzeugs registriert, sondern lediglich dessen Bewegung im Verkehrsfluss beobachtet und rechnerisch auswertet

Im Hinblick auf die von den Tat- und Identkameras aufgezeichneten Videosequenzen liegt zwar jedenfalls insoweit ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, als die Identkameras Bilder aufzeichnen, die ohne weiteres eine Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer erlauben und damit personenbezogene Daten enthalten. Dieser Eingriff erfolgt aber auf der gesetzlichen Grundlage des §§ 46 Abs. 1 OWiG, 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.

Das Messverfahren – soweit es wie im vorliegenden Fall betrieben wird - begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil es technisch nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Fahrzeug, das selbst kein Aufzeichnungssignal der Selektionskamera ausgelöst hat, im Zuge einer durch ein anderes Fahrzeug ausgelösten Aufzeichnung mit einem Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoß im Tatbereich durch die Tat- und Identkameras erfasst wird. Die Bildaufzeichnung wird in solchen Fällen durch §§ 46 Abs. 1 OWiG, 100h Abs. 3 StPO als Beweiserhebungsmaßnahme gedeckt und ist regelmäßig entsprechend § 108 StPO als Zufallsfund verwertbar.
In dem Bußgeldverfahren

gegen
M S,
Verteidiger: Rechtsanwalt M

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

hat auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Erfurt gegen den Beschluss des Amtsgerichts Arnstadt vom 15.04.2010 der Senat für Bußgeldsachen des Thüringer Oberlandesgerichts durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Schwerdtfeger, Richterin am Oberlandesgericht Pesta und Richterin am Oberlandesgericht Dr. Arend am 29. Oktober 2010 beschlossen:

Der Beschluss des Amtsgerichts Arnstadt vom 15.04.2010 wird aufgehoben.

Das Verfahren wird eingestellt.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last.



Gründe:


I.

Der Betroffenen wird vorgeworfen, am 30.04.2009 gegen 18.38 Uhr auf der Bundesautobahn 71 in Richtung Erfurt bei Kilometer 113,45 als Führerin des PKW mit dem amtlichen Kennzeichen H die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 43 km/h überschritten zu haben.

Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit wurde gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle der Thüringer Polizei vom 23.06.2009 eine Regelgeldbuße von 160,- € sowie ein einmonatiges Regelfahrverbot festgesetzt.

Auf den hiergegen form- und fristgerecht erhobenen Einspruch der Betroffenen wurde die Akte nach § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG an das Amtsgericht Arnstadt übersandt, wo sie am 23.09.2009 einging. In ihrer Übersendungsverfügung an das Amtsgericht teilte die Staatsanwaltschaft Erfurt mit, dass sie einer Entscheidung durch Beschluss nicht widerspreche.

Mit Verfügung vom 07.01.2010 fragte die zuständige Tatrichterin unter Vorlage der Akte bei der Staatsanwaltschaft Erfurt an, ob im Hinblick auf ein von ihr angenommenes Beweisverwertungsverbot bezüglich der mittels des Messsystems VKS 3.01 hergestellten Videoaufzeichnungen einer Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG zugestimmt werde. Mit Verfügung vom 23.02.2010 sandte die Staatsanwaltschaft Erfurt unter Verweigerung der Zustimmung die Akte an das Amtsgericht zurück, wo sie am 01.03.2010 einging.

Mit Beschluss vom 15.04.2010 hat das Amtsgericht Arnstadt die Betroffene mit der Begründung freigesprochen, der Verkehrsverstoß könne ihr nicht nachgewiesen werden, weil das von der Verkehrsüberwachungsanlage aufgezeichnete Beweisvideo wegen Verstoßes gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverwertbar sei.

Gegen den ihr am 20.04.2010 zugestellten Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Erfurt am 22.04.2010 Rechtsbeschwerde erhoben und diese am 07.05.2010 mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet.

Mit der Verfahrensrüge beanstandet die Staatsanwaltschaft, die Tatrichterin habe ihre Aufklärungspflicht nach § 77 OWiG verletzt, indem sie wegen eines zu Unrecht angenommenen Beweisverwertungsverbots von der Inaugenscheinnahme des Beweisvideos zum Nachweis der von der Betroffenen begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit abgesehen habe.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 06.09.2010 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde den angefochtenen Beschluss mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Arnstadt zurückzuverweisen.


II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

Sie ist nach § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG statthaft, form- und fristgerecht erhoben und mit der in allgemeiner Form erhobenen Sachrüge und der entsprechend den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2, 345 StPO ausgeführten Verfahrensrüge auch form- und fristgerecht begründet worden.

2. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Einstellung des Verfahrens, da das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung vorliegt.

a) Verfahrensvoraussetzungen und Verfahrenshindernisse sind Umstände, die so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängt und die nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern auch im allgemeinen Interesse gegeben sind (vgl. BGH, Beschluss vom 13.12.2000, 2 StR 56/00, bei juris m.w.N.).

Das Vorliegen von Verfahrenshindernissen ist auf ein zulässiges Rechtsmittel, auch wenn dieses – wie hier – zuungunsten des Betroffenen von der Staatsanwaltschaft eingelegt worden ist, durch das Rechtsmittelgericht von Amts wegen zu prüfen. Ist dem Rechtsmittelgericht aufgrund eines zulässigen Rechtsmittels die Prüfung der angefochtenen Entscheidung eröffnet, untersucht es von Amts wegen nicht nur, ob im Anschluss an diese Entscheidung Verfahrenshindernisse eingetreten sind, sondern auch, ob der Tatrichter Verfahrenshindernisse übersehen oder zu Unrecht unberücksichtigt gelassen hat (vgl. BGHSt 16, 115; BGH, a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 12.08.2008, 2 Ss Bs 54/08, bei juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 14.10.2008, Ss 337/08, bei juris). Für den besonderen Fall der Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen wird dies durch die Regelung des § 80 Abs. 5 OWiG bestätigt, der (nur) für die Fälle der zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde eine beschränkte Berücksichtigung von Verfahrenshindernissen vorsieht. Aus dieser Ausnahmeregelung folgt, dass umgekehrt in den Fällen der nicht zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde Verfahrenshindernisse (auf eine zulässige Rechtsbeschwerde) ohne Beschränkung zu berücksichtigen sind (vgl. OLG Oldenburg, a.a.O.).

b) Im vorliegenden Fall liegt das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung vor, da die der Betroffenen vorgeworfene Geschwindigkeitsübertretung bereits bei Erlass des angefochtenen Beschlusses verjährt gewesen ist.

Die für die vorliegende Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 26 Abs. 3 StVG zunächst drei Monate betragende Verjährungsfrist hat nach § 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG am Tattag, dem 30.04.2009 zu laufen begonnen.

Durch den Erlass des der Betroffenen alsbald zugestellten Bußgeldbescheides am 23.06.2009 ist die Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG wirksam unterbrochen und zugleich auf sechs Monate verlängert worden (§ 26 Abs. 3 StVG).

Nach Erlass des Bußgeldbescheides ist die sodann sechsmonatige Verjährungsfrist letztmalig mit Eingang der Akte beim Amtsgericht am 23.09.2009 nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 OWiG wirksam unterbrochen worden.

Danach ist keine weitere, die Verjährung unterbrechende Handlung der Tatrichterin vor Erlass des angefochtenen Beschlusses am 15.04.2010 mehr erfolgt, so dass mit Ablauf des 22.03.2010 die Verjährung eingetreten ist.

Insbesondere ist die Verjährung nach Eingang der Akte beim Amtsgericht nicht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 OWiG unterbrochen worden.

Danach wird die Verjährung unterbrochen durch den Hinweis auf die Möglichkeit, ohne Hauptverhandlung nach § 72 Abs. 1 Satz 2 OWiG zu entscheiden.

Einen solchen Hinweis hat die Tatrichterin vor Erlass des Beschlusses vom 15.04.2010 nicht erteilt, da ein Hinweis an die Betroffene nach § 72 Abs. 1 Satz 3 OWiG entbehrlich war und die Staatsanwaltschaft bereits bei Übersendung der Akte im September 2009 ausdrücklich erklärt hatte, dass sie einer Entscheidung im Beschlusswege nicht widerspreche.

Die am 07.01.2010 von der Tatrichterin an die Staatsanwaltschaft gerichtete Anfrage nach einer Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG stellt im Übrigen keine die Verjährung nach § 33 Abs. 1 OWiG unterbrechende Verfahrenshandlung dar.

c) Die eingetretene Verjährung hat hier zur Folge, dass das Verfahren unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung einzustellen ist.

In Bezug auf diese Rechtsfolge sieht sich der Senat allerdings mit Blick auf den Grundsatz des Vorrangs der Sachentscheidung zu einer Klarstellung hinsichtlich des von der Tatrichterin angenommenen Beweisverwertungsverbots veranlasst.

Nach dem Grundsatz des Vorrangs der Sachentscheidung ist unter Umständen auch bei eingetretener Verjährung keine Einstellung des Verfahrens, sondern ein Freispruch geboten. Dies wird etwa angenommen, wenn bei tatmehrheitlichem Zusammentreffen eines schwereren und eines leichteren Tatvorwurfs der schwerere nicht nachweisbar und der leichtere wegen Verjährung nicht verfolgbar ist oder bei Tateinheit der Aburteilung der Tat unter Einordnung unter den schwerwiegenderen gesetzlichen Tatbestand Beweisprobleme entgegen stehen und ihre Verfolgung unter einem weniger gravierenden rechtlichen Gesichtspunkt verjährt ist. Auf Freispruch statt auf Einstellung soll aber auch zu erkennen sein, wenn bei Zutagetreten des Verfahrenshindernisses der Sachverhalt bereits dahingehend geklärt ist, dass der Betroffene sich keiner Tat schuldig gemacht hat. Maßgebend hierfür ist, dass dem Betroffenen das ungeachtet des Verfahrenshindernisses ohnehin feststehende Fehlen eines Tatnachweises billigerweise durch Freispruch bezeugt werden sollte, insbesondere, wenn ein ihm nicht nachweisbarer Tatvorwurf schwerer wiegt als ein nicht mehr verfolgbarer (vgl. KK-Schoreit, StPO, 6. Aufl., § 260 Rn. 51 m.w.N.).

Da es danach geboten sein könnte, trotz eingetretener Verjährung an dem Freispruch der Betroffenen festzuhalten, wenn feststünde, dass ihr die vorgeworfene Verkehrsordnungswidrigkeit wegen eines bestehenden Beweisverwertungsverbots ohnehin nicht hätte nachgewiesen werden können, sieht der Senat sich zu der Feststellung veranlasst, dass das von der Tatrichterin angenommene Beweisverwertungsverbot tatsächlich nicht besteht.

Am Tatort wird seit dem Jahre 2008 eine stationäre Abstands- und Geschwindigkeitsmessanlage VKS 3.01 des Hersteller VIDIT betrieben. Zum Tatzeitpunkt arbeitete diese Anlage senatsbekannt (aus datenschutzrechtlichen Gründen) mit einer Vorselektion durch einen Videoanalyseprozess. Bei dieser Vorselektion wird der Verkehrsfluss innerhalb einer festgelegten Beobachtungsstrecke von 250 m mittels einer Selektionskamera beobachtet. Diese nimmt weder eine dauerhafte Aufzeichnung des Verkehrsgeschehens vor, noch erzeugt sie Bilder, die aufgrund ihrer Auflösung eine Identifikation von Fahrzeugkennzeichen oder Fahrern erlauben. Vielmehr registriert die Selektionskamera als „elektronisches Auge“ lediglich die Über- bzw. Unterschreitung vor Beginn der Messung eingegebener Geschwindigkeits- oder Abstandsgrenzwerte im Verkehrsfluss durch einzelne Fahrzeuge mittels eines elektronischen Rasters anhand einer Weg-Zeit-Berechnung und damit Verdachtsfälle in Bezug auf Geschwindigkeits- und Abstandsverstöße. Registriert die Selektionskamera einen solchen Verdachtsfall, löst sie mittels eines Signals automatisch eine Videoaufzeichnung zur Feststellung des Verstoßes und zur Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer aus. Diese Videoaufzeichnung wird durch eine Tat- und zwei Identkameras gefertigt, die im weiteren Streckenverlauf (hinter der Selektionskamera) nebeneinander an einer Schilderbrücke angebracht sind. Die Selektionskamera fungiert damit wie ein auf einer Autobahnbrücke stehender Polizeibeamter, der ein Fahrzeug „heranrasen“ sieht und zur Verifizierung seines dadurch geweckten Verdachts des Vorliegens einer Geschwindigkeitsübertretung und ggf. zu deren Dokumentierung per Knopfdruck oder per Funk eine Geschwindigkeitsmessung durch eine im weiteren Streckenverlauf befindliche Messanlage veranlasst. Die Tatkamera, die zeitlich vor den beiden Identkameras mit der Videoaufzeichnung beginnt, beobachtet mittels einer Übersichtsaufnahme eine (etwa 250 m hinter dem Beobachtungsbereich der Selektionskamera liegende) Strecke von 150 m, den sog. Tatbereich, und hält einen Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoß durch das verdächtige Fahrzeug innerhalb des Tatbereichs fest, wobei die aufgezeichnete Übersichtsaufnahme eine Identifikation von Fahrzeug und Fahrer grundsätzlich noch nicht erlaubt. Diese wird durch die beiden zeitlich nachfolgend aufzeichnenden Identkameras, welche (wegen eines möglichen Fahrspurwechsels des verdächtigen Fahrzeugs) auf die Last- und die Überholspur ausgerichtet sind, ermöglicht. Sie fertigen Detailaufnahmen des – mittlerweile herangenahten – verdächtigen Fahrzeugs, insbesondere seines Kennzeichens und seines Fahrers, die sog. Identsequenzen. Die Aufnahmen der Tat- und Identkameras werden auf einem eine Aufnahmedauer von 8 Stunden fassenden Datenträger gespeichert und später von dafür speziell geschulten Beamten in der Dienststelle ausgewertet. Dabei erfolgt die vom Messbeamten im Rahmen der Auswertung vorgenommene Zuordnung zusammengehörender Tat- und Identaufnahmen jeweils anhand von auf den Aufnahmen befindlicher Zeitangaben. Zur Verwertung vor Gericht wird nur die den jeweiligen Betroffenen betreffende Videosequenz auf einen Datenträger kopiert, welcher der Akte beigefügt wird. Bestätigt sich ein von der Selektionskamera registrierter Verdacht auf eine Abstands- oder Geschwindigkeitsübertretung im Tatbereich nicht, werden die von der Selektionskamera veranlassten Aufnahmen der Tat- und Identkameras im Rahmen der Auswertung gelöscht.

Angesichts dieser Funktionsweise begegnet die Verwertung der mittels des beschriebenen Messsystems gewonnenen Videosequenzen im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keinen Bedenken.

Das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG und der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnde Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu entscheiden. Eingriffe in dieses Recht sind nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig und bedürfen einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage. In das informationelle Selbstbestimmungsrecht greift jeder personenbezogene Akt staatlicher Informations- und Datenerhebung und –verarbeitung ein. Kein Eingriff liegt vor, wenn Daten unmittelbar nach ihrer Erfassung technisch spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden (vgl. BVerfG 120, 378).

Dementsprechend greift etwa eine Videoüberwachung öffentlicher Orte dann in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein, wenn sie Persönlichkeitsmerkmale der Beobachteten überträgt und die Bilder aufzeichnet (vgl. BVerfG NVwZ 2007, 688). Kein Eingriff liegt dagegen vor, wenn die Videoüberwachung nur als sog. Übersichtsaufnahme dem Verkehrsfluss oder unidentifizierbaren Passanten gilt und aus diesen Übersichtsaufnahmen auch nicht durch Nachbearbeitung identifikationstaugliche Einzelheiten herausgearbeitet werden können (vgl. Sachs-Murswieck, GG, 5. Aufl., Art. 2 Rn. 88a m.w.N.). Auch ist kein Eingriff gegeben, wenn etwa bei einer automatisierten Kennzeichenerfassung zwar identifikationstaugliche Einzelheiten erfasst werden, diese jedoch unverzüglich mit dem Fahndungsbestand abgeglichen und im Nichttrefferfall anonym bleiben und sofort gelöscht werden (vgl. BVerfG NJW 2008, 1505).

Soweit es die von der Selektionskamera beobachteten Vorgänge betrifft, liegt danach schon deshalb kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, weil die Selektionskamera keine Bilder aufzeichnet. Abgesehen davon beeinträchtigt der Einsatz der Selektionskamera dieses Recht auch deswegen nicht, weil diese keine individuellen Merkmale des Fahrzeugs registriert, sondern lediglich dessen Bewegung im Verkehrsfluss beobachtet und rechnerisch auswertet. Anhand der nicht gespeicherten und daher auch nicht nachzubearbeitenden Übersichtsbilder der Selektionskamera ist eine Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer unmöglich. Insoweit bedarf es einer gesetzlichen Grundlage also schon mangels eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht.

Im Hinblick auf die von den Tat- und Identkameras aufgezeichneten Videosequenzen liegt zwar jedenfalls insoweit ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, als die Identkameras Bilder aufzeichnen, die ohne weiteres eine Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer erlauben und damit personenbezogene Daten enthalten. Dieser Eingriff erfolgt aber auf der gesetzlichen Grundlage des §§ 46 Abs. 1 OWiG, 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.

Nach § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO dürfen auch ohne Wissen der Betroffenen außerhalb von Wohnungen Bildaufnahmen hergestellt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Beschuldigten auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre. Während sich die Maßnahme nur gegen einen Beschuldigten, also einen Tatverdächtigen, richten darf, erlaubt § 100h Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StPO auch die – gezielte – Anfertigung von Bildaufnahmen nichtverdächtiger Personen wie etwa Kontaktpersonen des Beschuldigten. Schließlich bestimmt § 100h Abs. 3 StPO, dass die Maßnahmen auch dann durchgeführt werden dürfen, wenn von ihnen nichtverdächtige Personen – zufällig und ungezielt – unvermeidbar mitbetroffen werden.

Bei regulärem Betrieb sind die erst aufgrund eines durch die Selektionskamera registrierten konkreten Verdachts auf einen Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoß gegen ein bestimmtes Fahrzeug ausgelösten Bildaufnahmen durch die Tat- und Identkameras von § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO gedeckt, da sie sich gegen einen Tatverdächtigen richten.

Soweit die Tatrichterin gleichwohl im vorliegenden Fall ein Beweiserhebungs- und –verwertungsverbot deshalb angenommen hat, weil es bei lebhafteren Verkehrsverhältnissen zu „Non-Stop-Aufzeichnungen“ der Tat- und Identkameras und deshalb entgegen § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO zu nicht mehr verdachtsbezogenen Bildaufnahmen komme, vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen.

Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich nachvollziehbar, dass es zu einem „Durchlaufen“ der Tat- und Identkameras kommen kann, wenn die Selektionskamera bei hohem Verkehrsaufkommen derart viele Verdachtsfälle registriert, dass sie in so schneller Folge Auslösungssignale an die nachfolgenden Tat- und Identkameras sendet, dass sich diese aufgrund der ständig eingehenden Signale nicht mehr zwischenzeitlich abschalten, sondern weiter ununterbrochen aufzeichnen. Auch in diesem Falle sind jedoch die Aufzeichnungen der Tat- und Identkameras (konkret) verdachtsbezogen. Wird nämlich aufgrund eines Verdachts eines Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoßes gegen ein bestimmtes (erstes) Fahrzeug die Aufzeichnung durch Tat- und Identkameras ausgelöst und ist diese noch nicht beendet, während aufgrund eines neuen Verdachts gegen ein nachfolgendes (zweites) Fahrzeug bereits ein neues Aufzeichnungssignal eingeht, wird die Aufzeichnung allein aufgrund des zweiten Signals und damit aufgrund eines konkret gegen das zweite Fahrzeug gerichteten Verdachts nicht beendet, sondern fortgesetzt und der neue Verdachtsfall verifiziert, dokumentiert und identifiziert.

Demgegenüber sind die Ausführungen der Tatrichterin, „dass die Aufzeichnung zwar durch ständig eingehende Signale der Selektionskamera ausgelöst wird, es jedoch im Nachgang bei der Auswertung völlig gleichgültig ist, welches Fahrzeug für die In-Betrieb-Setzung der Tatkamera ursächlich war, da dann vom Auswertungsbeamten das Gesamtgeschehen bewertet wird, was bedeutet, dass jeder nachweisbare Verstoß (ob von der Selektionskamera bemerkt oder nicht) zur Anzeige gebracht werden kann, was insbesondere dadurch bestätigt wird, dass auch häufig das Nicht-Anlegen des Sicherheitsgurts oder die Nutzung eines Mobiltelefons (in Verbindung mit Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoß) zur Anzeige kommt, was von der Selektionskamera überhaupt nicht erkannt werden kann“, ohne Bedeutung. Darauf, ob im Rahmen der späteren Auswertung der über eine Zeitdauer von 8 Stunden gespeicherten Aufzeichnungen der Tat- und Identkameras durch den Messbeamten nachvollzogen werden kann, welches Signal und damit welches Fahrzeug für die Aufzeichnung bestimmter Videosequenzen ursächlich war – was im Übrigen schon daran scheitern dürfte, dass die Selektionskamera keine Daten speichert – kommt es nicht an. Entscheidend ist allein, dass die Bildaufzeichnungen der Tat- und Identkameras erst aufgrund eines konkreten Verdachts gegen ein bestimmtes Fahrzeug und damit auf der Grundlage des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 StPO ausgelöst worden und deshalb verwertbar sind. Dass die Tat- und Identkameras mit einer Aufzeichnung beginnen oder „Non-Stop durchlaufen“, ohne dass zuvor ein Signal der Selektionskamera eingegangen ist, hat die Tatrichterin ausweislich der vorstehenden Ausführungen im Übrigen gerade nicht festgestellt.

Das hier in Rede stehende Messverfahren begegnet auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil es technisch nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Fahrzeug, welches selbst kein Aufzeichnungssignal der Selektionskamera ausgelöst hat, im Zuge einer durch ein anderes Fahrzeug ausgelösten Aufzeichnung mit einem Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoß im Tatbereich durch die Tat- und Identkameras erfasst wird. Denkbar ist etwa, dass das Aufzeichnungssignal durch einen zu dicht auffahrenden Lkw ausgelöst wird, neben dem sich ein zwar die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreitender,den für das Auslösen des Signals voreingestellten höheren Geschwindigkeitsgrenzwert aber nicht erreichender Pkw befindet. Der von diesem Pkw begangene Geschwindigkeitsverstoß würde dann unter Umständen von den Tat- und Identkameras aufgezeichnet und dokumentiert, obwohl der Pkw selbst kein Aufzeichnungssignal verursacht hat. Ferner ist vorstellbar – wenn auch nicht praxisnah –, dass ein im Selektionsbereich noch ordnungsgemäß fahrendes Fahrzeug anschließend im Bereich der Tatkamera zu schnell fährt und dieser Verkehrsverstoß aufgrund eines von einem anderen Fahrzeug ausgelösten Aufzeichnungssignals aufgezeichnet wird. In beiden Beispielsfällen wäre jedoch die Bildaufzeichnung durch §§ 46 Abs. 1 OWiG, 100h Abs. 3 StPO als Beweiserhebungsmaßnahme gedeckt und regelmäßig entsprechend § 108 StPO als Zufallsfund verwertbar. Die nach dieser Vorschrift gegebene Verwertbarkeit von Zufallserkenntnissen ist im Übrigen hier auch nicht nach § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO eingeschränkt, da die Zulässigkeit der Herstellung von Bildaufnahmen nach § 100h Abs. 1 Nr. 1 StPO gerade nicht an bestimmte Anlass- bzw. Katalogtaten geknüpft ist. Davon abgesehen werden nach ständiger Übung in der VPI Suhl Geschwindigkeitsverstöße unterhalb des voreingestellten Grenzwertes prinzipiell nicht ausgewertet und dementsprechend nicht verfolgt.

Eine Vorlage entsprechend § 121 Abs. 2 GVG wegen beabsichtigter Abweichung von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs war nicht veranlasst. Zwar gehen einige Oberlandesgerichte – im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009 (BVerfG, 2 BvR 941/08, bei juris) – von einem Beweiserhebungs- und –verwertungsverbot in Bezug auf durch das Messsystem VKS gefertigte Videoaufzeichnungen aus (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27.11.2009, Ss Bs 186/09, bei juris; OLG Hamm, Beschluss vom 22.12.2009, 1 Ss OWi 960/09, bei juris, das ein Beweiserhebungs-, aber kein –verwertungsverbot annimmt). In allen entschiedenen Fällen wurde aber das Messsystem dergestalt eingesetzt, dass ohne Vorselektion und damit ohne einen konkreten Tatverdacht sämtliche, einen Autobahnabschnitt passierenden Fahrzeuge in einer Weise gefilmt wurden, die eine Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer ermöglichte. Insoweit unterscheiden sich diese Fälle von dem hier vorliegenden eines verdachtsabhängigen Einsatzes des Messsystem VKS, der kein Beweiserhebungs- und –verwertungsverbot nach sich zieht (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22.10.2009, 4 Ss OWi 800/09, bei juris, OLG Dresden, Beschluss vom 02.02.2010, Ss (OWi) 788/09, bei juris; OLG Rostock, Beschluss vom 24.02.2010, 2 Ss (OWi) 6/10 I, 19/10, bei juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 04.03.2010, 1 Ss Bs 23/10, bei juris; ebenso VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 18.01.2010, 14 L 2/10, bei juris).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO.

Eine Auslagenüberbürdung auf die Betroffene nach der Ausnahmevorschrift des § 467 Abs. 3 Satz 2 StPO war vorliegend nicht veranlasst (vgl. Senatsbeschluss vom 11.01.2007, NStZ-RR 2007, 254ff.).

Dr. Schwerdtfeger Pesta Dr. Arend
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