Pressemitteilung
C-606/10;
Verkündet am:
14.06.2012
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt! Das Unionsrecht steht der französischen Regelung nicht entgegen, die es Drittstaatsangehörigen, die über einen vorläufigen Aufenthaltstitel verfügen, verbietet, ohne Rückreisevisum nach Frankreich zurückzukehren Leitsatz des Gerichts: Die nationalen Behörden, die einem solchen Staatsangehörigen ein Rückreisevisum ausstellen, können jedoch seine Wiedereinreise in den Schengenraum nicht auf Orte im nationalen Hoheitsgebiet beschränken Zum Urteilstext (Englisch!) Zur englischen Version der Presserklärung Die Verordnung (EG) Nr. 562/20061, der sogenannte „Schengener Grenzkodex“, fügt sich in den allgemeinen Rahmen eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen ein. Sie sieht für die Einreise von Drittstaatsangehörigen in den Schengenraum bestimmte Voraussetzungen vor. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum ab dem Zeitpunkt der ersten Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten müssen diese Staatsangehörigen insbesondere im Besitz eines gültigen Reisedokuments, das zum Überschreiten der (Binnen- oder Außen-)Grenze eines Mitgliedstaats berechtigt, und – falls erforderlich – eines gültigen Visums sein. Als Ausnahmeregelung wird Drittstaatsangehörigen, die nicht alle Voraussetzungen des Schengener Grenzkodex erfüllen, aber Inhaber eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels oder „Rückreisevisums“ oder erforderlichenfalls beider Dokumente sind, die Einreise in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten zum Zweck der Durchreise zur Erreichung des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats gestattet, der den Aufenthaltstitel oder das Rückreisevisum ausgestellt hat. Der Conseil d’État (Frankreich) ist mit einer Klage der Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE) auf Aufhebung eines ministeriellen Erlasses vom 21. September 2009 befasst. Dieser Erlass verbietet visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, die nur Inhaber eines für die Dauer der Prüfung eines ersten Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder eines Asylantrags ausgestellten vorläufigen Aufenthaltstitels sind und die nicht über ein von den konsularischen Vertretungen oder, in Ausnahmefällen, vom Präfekten ausgestelltes Wiedereinreisevisum verfügen, die Rückreise nach Frankreich. In dem Erlass wird im Übrigen darauf hingewiesen, dass die Außengrenzen des Schengenraums mit einem vom Präfekten ausgestellten Rückreisevisum grundsätzlich nur an einem französischen Einreiseort überschritten werden dürfen. Nach Ansicht der ANAFE verstößt dieser Erlass gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, da er unmittelbar anwendbar sei und Drittstaatsangehörigen, die aus dem französischen Hoheitsgebiet ausgereist seien, das Recht nehme, ohne Beantragung eines Visums wieder nach Frankreich einzureisen, obwohl sie dies aufgrund der früheren Verwaltungspraxis hätten erwarten können. Der Conseil d’État ersucht den Gerichtshof um Beantwortung dieser Fragen. Der Gerichtshof erinnert in seinem heutigen Urteil zunächst daran, dass der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels einen Drittstaatsangehörigen berechtigt, in den Schengenraum einzureisen, sich dort aufzuhalten, diesen Raum zu verlassen und wieder in ihn einzureisen, ohne über ein Visum verfügen zu müssen. Ein für die Dauer der Prüfung eines ersten Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder eines Asylantrags ausgestellter vorläufiger Aufenthaltstitel ist jedoch vom Begriff des Aufenthaltstitels im Sinne der Verordnung ausdrücklich ausgenommen. Im Übrigen gelten die im Schengener Grenzkodex festgelegten Regeln für die Verweigerung der Einreise für jeden Drittstaatsangehörigen, der über eine Außengrenze des Schengenraums in einen Mitgliedstaat einreisen möchte. Da durch diese Verordnung die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft und die Grenzkontrollen auf die Außengrenzen des Schengenraums verlagert wurden, sind die Bestimmungen über die Verweigerung der Einreise an den Außengrenzen grundsätzlich auf den gesamten grenzüberschreitenden Personenverkehr anwendbar, auch wenn die Einreise über die Schengener Außengrenzen eines Mitgliedstaats nur zu dem Zweck erfolgt, sich in Letzterem aufzuhalten. Demzufolge kann ein Drittstaatsangehöriger, der bis zur Entscheidung über seinen Aufenthalts- oder Asylantrag einen von einem Mitgliedstaat ausgestellten vorläufigen Aufenthaltstitel besitzt und das Hoheitsgebiet dieses Staates, in dem er seinen Antrag gestellt hat, verlässt, nicht unter Hinweis allein auf seine vorläufige Aufenthaltserlaubnis dorthin zurückkehren. Somit müssen die für die Grenzkontrolle zuständigen Behörden, wenn ein Drittstaatsangehöriger an den Außengrenzen des Schengenraums erscheint, ihm gemäß der Verordnung die Einreise in das Hoheitsgebiet verweigern, sofern er nicht unter bestimmte Ausnahmen fällt (humanitäre Gründe, Gründe des nationalen Interesses oder internationale Verpflichtungen). Diese Kontrollen müssen auch unbeschadet der Rechte von Flüchtlingen und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, durchgeführt werden, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung. Sodann legt der Gerichtshof den Begriff „Rückreisevisum“ aus. Dieses stellt eine nationale Erlaubnis dar, die einem Drittstaatsangehörigen, der weder über einen Aufenthaltstitel noch über ein Visum oder ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit im Sinne des Visakodex2 verfügt, gewährt werden kann, um es ihm zu ermöglichen, einen Mitgliedstaat zu einem bestimmten Zweck zu verlassen und anschließend dorthin zurückzukehren. Die nationalen Bedingungen für eine Wiedereinreise sind im Schengener Grenzkodex zwar nicht festgelegt, doch ergibt sich aus ihm gleichwohl, dass das Rückreisevisum dem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten zum Zweck der Durchreise zur Erreichung des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats, der ein solches Rückreisevisum ausgestellt hat, gestatten muss. Deshalb ist der Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der einem Drittstaatsangehörigen ein „Rückreisevisum“ ausstellt, die Einreise in den Schengenraum nicht auf Orte seines nationalen Hoheitsgebiets beschränken kann. Schließlich mussten nach den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes keine Übergangsmaßnahmen für Drittstaatsangehörige vorgesehen werden, die aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausgereist sind, während sie nur im Besitz einer für die Dauer der Prüfung eines ersten Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder eines Asylantrags ausgestellten vorläufigen Aufenthaltserlaubnis waren, und die nach Inkrafttreten der Verordnung in dieses Hoheitsgebiet zurückkehren wollen. Aus den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex ergibt sich nämlich, dass ein vorläufiger Aufenthaltstitel nicht zur Wiedereinreise in den Schengenraum berechtigt. Im Übrigen hebt der Gerichtshof hervor, dass die Verordnung am 13. April 2006 und somit sechs Monate vor dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (13. Oktober 2006) im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, so dass die Vorhersehbarkeit der ab diesem Zeitpunkt anzuwendenden Vorschriften gewährleistet war. ------------------- HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. -------------------- 1Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 81/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 (ABl. L 35, S. 56) geänderten Fassung. 2Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243, S. 1). ----------------------------------------------------- Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? 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