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Pressemitteilung
C-199/11;
Verkündet am: 
 06.11.2012
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Die Grundrechtecharta hindert die Kommission nicht daran, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten verursacht wurde
Zum Urteilstext (Englisch!)
Zur englischen Version der Presserklärung

Erlässt die Europäische Kommission eine Entscheidung, mit der sie das Bestehen einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung feststellt, so bindet diese Entscheidung die staatlichen Stellen einschließlich der nationalen Gerichte.

Im Februar 2007 setzte die Kommission gegen die Otis-, die Kone-, die Schindler- und die ThyssenKrupp-Gruppe wegen Beteiligung an Kartellen auf dem Markt des Verkaufs, des Einbaus, der Wartung und der Modernisierung von Aufzügen und Fahrtreppen in Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden Geldbußen in einer Gesamthöhe von über 992 Mio. Euro fest1.

Die betroffenen Unternehmen erhoben hiergegen Nichtigkeitsklagen beim Gericht der Europäischen Union. Das Gericht wies die Klagen von Otis, Kone und Schindler mit Urteilen vom 13. Juli 2011 2 ab. Die gegen die Unternehmen der ThyssenKrupp-Gruppe festgesetzten Geldbußen setzte es hingegen herab.

Mehrere Unternehmen dieser vier Gruppen legten gegen die Urteile des Gerichts beim Gerichtshof Rechtsmittel ein, um ihre Aufhebung zu erreichen 3.

Parallel dazu reichte die Kommission im Juni 2008 – als Vertreterin der Europäischen Union (damals noch Europäische Gemeinschaft) – bei der Rechtbank van koophandel te Brussel (Belgien) eine Klage ein, mit der sie von Otis, Kone, Schindler und ThyssenKrupp die Zahlung eines Betrages von 7 061 688 Euro verlangte. Die Kommission machte geltend, dass der Europäischen Union aufgrund der Vereinbarung, an der diese Unternehmen beteiligt gewesen
seien, in Belgien und Luxemburg ein finanzieller Schaden entstanden sei. Die Europäische Union hatte nämlich mehrere öffentliche Aufträge für den Einbau, die Wartung und die Erneuerung von Aufzügen und Fahrtreppen in verschiedenen Gebäuden europäischer Organe und Einrichtungen mit Sitz in diesen beiden Ländern vergeben, deren Preis infolge der von der Kommission für rechtswidrig erklärten Vereinbarung über dem Marktpreis gelegen habe.

Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank van koophandel te Brussel dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Erstens möchte sie wissen, ob die Kommission im konkreten Kontext dieser Rechtssache zur Vertretung der Union vor einem nationalen Gericht befugt ist.

Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass für die Vertretung der Union der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) maßgeblich ist, da der Rechtsstreit vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anhängig gemacht worden ist. Somit ist die Kommission befugt, die Gemeinschaft vor dem nationalen Gericht zu vertreten, ohne dass sie dafür einer spezifischen Vollmacht bedarf.
Zweitens möchte das nationale Gericht wissen, ob die Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Kommission daran hindert, als Vertreterin der Union auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines wettbewerbswidrigen Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht festgestellt wurde.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen kann, wenn zwischen dem Schaden und einem verbotenen Kartell oder Verhalten ein Kausalzusammenhang besteht, und dass dieses Recht somit auch der Union zusteht.

Bei der Ausübung dieses Rechts müssen jedoch die Grundrechte der Parteien beachtet werden, wie sie insbesondere in der Charta gewährleistet sind. Was insbesondere das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz angeht, weist der Gerichtshof darauf hin, dass dieses Recht mehrere Elemente umfasst, zu denen u. a. das Recht auf Zugang zu einem Gericht und der Grundsatz der Waffengleichheit gehören.

Zum Recht auf Zugang zu einem Gericht hebt der Gerichtshof hervor, dass der Grundsatz, wonach die nationalen Gerichte durch die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens in einer Entscheidung der Kommission gebunden sind, nicht bedeutet, dass die Parteien kein Recht auf Zugang zu einem Gericht hätten. Das Unionsrecht sieht nämlich für Kommissionsentscheidungen im Bereich des Wettbewerbs ein System der gerichtlichen Kontrolle vor, das sämtliche nach der Grundrechtecharta erforderlichen Garantien bietet.

Die nationalen Gerichte sind zwar durch die Feststellungen der Kommission in Bezug auf das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens gebunden, doch sind allein sie dafür zuständig, das Vorliegen eines Schadens und eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem entstandenen Schaden zu beurteilen. Auch wenn die Kommission in ihrer Entscheidung die genauen Auswirkungen der Zuwiderhandlung bestimmt hat, bleibt es Sache der nationalen Gerichte, im Einzelfall jeweils den Schaden desjenigen, der eine Schadensersatzklage erhoben hat, zu bestimmen. Die Kommission ist daher nicht Richterin in eigener Sache.

Zum Grundsatz der Waffengleichheit schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass dieser Grundsatz der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien dient, indem er gewährleistet, dass jedes Dokument, das einem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden kann. Im vorliegenden Fall wurden aber die Informationen, die die Kommission im Kartellverfahren gesammelt hatte – und die die beklagten Unternehmen nicht zu kennen behaupten –, dem nationalen Gericht von der Kommission gar nicht vorgelegt. Jedenfalls verbietet das Unionsrecht der Kommission, bei einer wettbewerbsrechtlichen Untersuchung erlangte Informationen zu einem anderen als dem Untersuchungszweck zu verwerten.

Aufgrund dieser Erwägungen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Charta die Kommission nicht daran hindert, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten entstanden ist.

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Entscheidung K(2007) 512 endg. der Kommission vom 21. Februar 2007 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] (Sache COMP/E-1/38.823 – Aufzüge und Fahrtreppen), von der eine Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2008, C 75, S. 19) veröffentlicht wurde.
2Urteile in der Rechtssache Schindler Holding Ltd u. a./Kommission (T-138/07), in den verbundenen Rechtssachen General Technic-Otis Sàrl/Kommission (T-141/07), General Technic Sàrl/Kommission (T-142/07), Otis SA u. a./Kommission (T-145/07) und United Technologies Corp./Kommission (T-146/07); in den verbundenen Rechtssachen ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV/Kommission (T-144/07), ThyssenKrupp Aufzüge GmbH u. a./Kommission (T-147/07), ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl/Kommission (T-148/07), ThyssenKrupp Elevator AG/Kommission (T-149/07), ThyssenKrupp AG/Kommission (T-150/07) und ThyssenKrupp Liften BV/Europäische Kommission (T-154/07), sowie in der Rechtssache Kone Oyj u. a./Kommission (T-151/07) (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 72/11).
3Laufende Rechtssachen: Schindler Holding u. a./Kommission (C-501/11 P) und Kone u. a./Kommission (C-510/11 P). Durch Beschluss gestrichene Rechtssachen: Beschlüsse vom 24. April 2012, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission (C-516/11 P) und ThyssenKrupp Liften/Kommission (C-519/11 P); Beschlüsse vom 8. Mai 2012, ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg/Kommission (C-504/11 P), ThyssenKrupp Elevator/Kommission (C-505/11 P) und ThyssenKrupp/Kommission (C-506/11 P). Abgeschlossene Rechtssachen: Beschlüsse vom 15. Juni 2012, United Technologies/Kommission (C-493/11 P) und Otis Luxembourg u. a./Kommission (C-494/11 P).
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